Hältst Du mich wirklich?

27. Februar 2018

Bindung klingt nach Fesseln, nicht nach Freiheit. Nur dass man ohne sie manchmal abstürzen kann. Wer das nicht glaubt, sollte einmal Klettern gehen. Ich habe es ausprobiert.

Ich atme tief durch, ich vertraue dieser Bindung nicht. Einige Meter hänge ich an einer Wand über dem Boden und klammere mich an die Griffe. Loslassen? Mich auf dieses Seil verlassen? Was da passieren könnte, was ich da verlieren könnte. Grob gesagt: alles. Werde ich aufgefangen, auch wenn ich falle? Ich teste mit den Fingern diese zwei Zentimeter dickes Seil. Ziemlich dünn. Hält diese Bindung? Ich verlasse mich lieber auf mich selbst. Und muss es doch wagen, als es nicht mehr weitergeht.

Man kann nicht sagen, dass Bindungen gerade sonderlich modern wären. Sich für immer festzulegen auf eine Beziehung, auf eine Partei, auf einen Glauben? Schwierig. Bindung klingt nach Fesseln, nicht nach Freiheit. Nur dass man ohne sie manchmal abstürzen kann.

Tobias Haueis (20) zeigt, was sich dagegen tun lässt. Der junge Klettertrainer mit Hornbrille und leuchtend rotem T-Shirt macht aus dem blauen Seil mit sechs Handgriffen eine kleine Achterbahn: den Achterknoten. Und diese Schlaufe soll mich halten? Ich würde lieber auf Karabinerhaken vertrauen. Aus Metall, hart und glänzend. »Nein, der Achterknoten hält Dich viel besser«, sagt Tobias. Wie im Leben die unscheinbaren Bindungen manchmal auch die festeren sind.

Die mit bunten Griffen übersäte Wand in der Kletterwelt Erzgebirge an der Strobel-Mühle bei Pockau-Lengefeld ragt steil auf. Wie eine Kathedrale. 14 Respekt fordernde Höhenmeter. Okay, ich bin so ziemlich das Gegenteil eines Sportlers, auch das Gegenteil eines Abenteurers. Ich stehe auch lieber auf den eigenen Füßen, am liebsten gemütlich. Das wird jetzt schwierig.

»Wenn Du fällst, dann fällst Du – das ist nicht so schlimm«, ruft Tobias, der Kletter-Trainer, von unten. Das ist leicht gesagt. Die ersten Klettermeter meines Lebens habe ich die Wand erklommen. Nur nicht nach unten sehen. Die Höhe ist nicht beruhigend. Aber der Blick nach oben macht es auch nicht leichter. Jetzt hänge ich an einem toten Punkt. Zumindest sieht es aus meinen Augen danach aus: über mir viel leere Wand, wenig Griffe – und wenn, dann sind sie zu klein. Oder zu weit weg. Mein Weg scheint zu Ende.

»Jetzt lass Dich fallen und Hände ans Seil!«, ruft Tobias aus der Tiefe, dort unten sichert er mich am anderen Ende des Seils. Sagt er zumindest. Hält er mich wirklich? Und das Seil? Ich kämpfe kurz mit mir, ob ich darauf vertrauen soll. Und kann. Dann nehme ich die Hände von der Wand und schwebe zur Erde.

Das Klettern ist der Ernstfall des Vertrauens. Eine ernste Probe. Kinder haben meist keine Probleme, sich auf ihre Eltern an der Kletterwand zu verlassen, hat Tobias Haueis beobachtet. »Aber andersherum, wenn ein Kind seine Eltern sichert und hält – das ist für beide eine ganz neue Erfahrung«, sagt der Trainer. »Und bei Ehepartnern merkt man schnell, ob sie sich vertrauen. Wenn die Frau immer wieder fragt: Hältst Du mich auch wirklich?«

Tobias, der Klettertrainer, kann diesen Test auch noch verschärfen. Kein Problem für ihn. »Gib bitte mal Deine Brille«, sagt er und streift mir eine schwarze Binde über die Augen. Völlig blickdicht. »Blind klettern ist eine gute Übung, blind zu vertrauen – dem, der Dich sichert. Und Gott.«

Ich ertaste die ersten Griffe an der Wand. Das geht noch. Aber mit den Füßen stochere ich im Leeren, bis ich den nächsten Tritt finde. Aber erstaunlich: Ich komme schneller voran als mit sehenden Augen. Die Irritation der Höhe ist weg. Manchmal ist es gut, nichts von der Tiefe zu wissen, in die man fallen könnte. Und einfach darauf zu vertrauen, dass der Weg gut ist. Dass da überhaupt ein Weg ist.

Ich weiß nicht, in welcher Höhe ich an der Wand hänge. Nur der Hall der Stimmen von unten gibt eine Ahnung. Ich sehe auch nicht den Spruch, der auf einem Plakat im Großformat in der Kletterhalle hängt. Aber ich habe ihn mir gemerkt. »Gott spricht: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.« Stammt aus der Bibel. Muss man auch erst einmal glauben können. Aber Tobias, mein Kletterlehrer, Erzgebirger aus Zöblitz und seit ein paar Monaten Student der Theologie, sagt fest: »Wenn es eine Sportart gibt, mit der man den Glauben gut vergleichen kann, dann ist es Klettern.«

Und weil er weiß, dass man so etwas nicht erzählen kann, sondern erleben muss, hat er ein paar Kletter-Andachten geschrieben mit ganz praktischen Übungen. Blind hänge ich an der Wand. Taste, suche, finde keinen Griff mehr, der mir tragfähig genug erscheint. Also muss ich mich ins Seil setzen: ins Dunkle, Unsichtbare, ins Ungewisse. Schwer genug. Zu glauben, dass mein Kletter-Trainer Tobias mich hält. Ohne es zu sehen, ohne zu kontrollieren. Sanft setze ich auf dem Boden auf.

Ohne Augenbinde sehe ich die Wand empor: Im blinden Vertrauen bin ich höher geklettert als mit der Kontrolle und der Angst der Augen.

Klingt alles leicht, schwebend irgendwie. Mein Kletter-Trainer Tobias hat etwas dagegen: einen grünen und einen orangen Rucksack. Und ein paar Steine, die er selbst an der Pockau hinter der Strobel-Mühle gesammelt hat. »Mit ihnen kannst Du Dinge in Deinen Rucksack legen, die Dir im Leben wichtig sind – wie Familie, Freunde, Arbeit – und die Dich aber auch unter Druck setzen«, sagt Tobias. Ich lade ordentlich ein. Polternd kollern die scharfkantigen Wackersteine in den grünen Rucksack. Die ersten Meter an der Wand spüre ich sie kaum. Ein bisschen mehr Schwitzen, ein bisschen mehr Puste, aber man kann alles schaffen, wenn man nur will. Das ändert sich, als Tobias mir den orangen Rucksack noch anhängt.

15 Kilogramm ziehen schon am Boden hinab. An der Wand lassen sie die Finger zittrig und die Füße weich werden. »Die Dinge, an die Du Dein Herz hängst, können schön sein und Dich trotzdem ganz schön belasten«, sagt Tobias von unten. Und dann gibt es noch die Dinge, die nur belastend sind. Ein Sog von unten scheint mich von der Wand zu ziehen. Ich atme schwer, ich schwitze. Ich lasse mich ins Seil fallen. Da trägt etwas. Mit der Bindung Gottes ist es genauso, sagt Tobias. Oder mit der Bindung zwischen Menschen.

Beim Abseilen betrachte ich den Achterknoten, der sich unter dem Gewicht immer enger zieht. Das Merkwürdige: Je stärker die Last, umso stärker scheint die Bindung zu werden. Und umso erleichternder.

Text: Andreas Roth
Fotos: Steffen Giersch

Vertrauen am Seil selbst erleben

14 Meter in die Höhe und 70 verschiedene Routen – in der Strobel-Mühle Pockau-Lengefeld lässt sich das Klettern auch unter einem Dach entdecken. In der Halle der Kletterwelt Erzgebirge können Anfänger ab sieben Jahren von erfahrenen Trainern diesen Vertrauenssport lernen. Erfahrene Kletterer können selbst loslegen. Die Kletterhalle gehört zum CVJM Strobel-Mühle, der nebenan auch einen Hochseilgarten betreibt.
Mehr Informationen finden Sie unter: www.kletterwelt-erzgebirge.de